Was ist die effektive Reproduktionszahl?
Nach fast einem Jahr Pandemie hat ein breiter Teil der Bevölkerung Grundkenntnisse der Epidemiologie erlangt. Dabei ist die effektive Reproduktionszahl (R) eine besonders bei Politikerinnen und Politikern beliebte und leicht interpretierbare Kennzahl. Sie gibt an, wie viele Personen durchschnittlich von einer Infizierten angesteckt werden. Liegt R beispielsweise bei 1,5 so stecken 10 Corona-Positive im Durchschnitt 15 Personen an. Liegt R über 1, dann breitet sich die Pandemie weiter aus, liegt sie unterhalb von 1 flacht das Infektionsgeschehen ab.
Wie wird diese in Österreich berechnet?
Dieses relativ einfache Konzept in Zahlen zu gießen ist gar nicht so einfach und kann mit mehr oder weniger statistischer Finesse umgesetzt werden. In Österreich ist die Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) für die Berechnung der effektiven Reproduktionszahl zuständig. Die verwendete Methode wurde hier veröffentlicht. Nach einem relativ einfachen Konzept werden die Zahlen der positiven Tests der letzten 13 Tage herangezogen um jede Woche die Entwicklung von R zu schätzen. Daraus wird dann eine Grafik wie diese produziert .

Besonders hervorzuheben ist hier die graue Umrandung der blauen Linie, welche etwa im Juni in der Grafik zu erkennen ist. Diese stellt das Konfidenzintervall* dar und gibt etwaige Unsicherheiten in der Abschätzung der effektiven Reproduktionszahl an. Spannend ist dabei, dass die Schattierung in den letzten Monaten so eng geworden ist, dass sie in der Grafik nicht mehr ersichtlich ist.
Die Analyse der AGES fußt auf zwei Annahmen. Erstens wird davon ausgegangen, dass die effektive Reproduktionszahl über den Berechnungszeitraum (13 Tage) konstant ist. Allein aus der obigen Grafik ist zu erahnen, dass dies nicht der Realität entspricht. Zweitens setzt die Berechnung die Zahl der infizierten Personen voraus. In der Praxis wird allerdings mit der Zahl der positiven Corona-Tests gearbeitet.
Warum ist das problematisch?
Diese beiden Annahmen werden mehr oder weniger klar in der Veröffentlichung der AGES erwähnt. Allerdings ist in der Realität nicht anzunehmen, dass R über den Berechnungszeitraum konstant ist, vor allem wenn innerhalb der relevanten 13 Tage strengere Maßnahmen eingeführt wurden. Zusätzlich müssen wir davon ausgehen, dass wir nicht alle infizierten Personen finden, wodurch sich die Zahl der Infizierten von denen der positiven Getesteten unterscheidet. Die Berechnung der AGES setzt also Annahmen voraus die in der Wirklichkeit nicht erfüllt sind – was im Gegenzug die Richtigkeit der Analysen in Frage stellt.
Die Berechnung der effektiven Reproduktionszahl unterscheidet sich auch markant von der anderer Länder. Während die österreichische Berechnungsmethode mit einem herkömmlichen Taschenrechner in kurzer Zeit zu bewerkstelligen wäre, rechnet in Schottland ein Supercomputer ganze 56 Stunden um R abzuschätzen! In England hingegen werden verschiedene Berechnungen aus unterschiedlichsten Datenquellen kombiniert. In beiden Ländern sind außerdem die Konfidenzintervalle – also die Abschätzung der Unsicherheit – deutlich breiter: während diese in Österreich aktuell etwa mit plus/minus 0,01 angegeben wird, bewegt sich die Schwankungsbreite sowohl in Schottland als auch in England bei jeweils plus/minus 0,1.
All das legt nahe dass das Berechnungsmodell der AGES die Wirklichkeit zu sehr vereinfacht. Das führt dazu dass die Unsicherheit hierzulande unterschätzt wird, was Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in falscher Sicherheit wiegen könnte – etwa ob R eventuell noch über oder bereits sicher unter 1 ist. Zusätzlich ist fraglich ob die Berechnung überhaupt zu richtigen Ergebnissen kommt, da sie auf Annahmen fußt, die nicht der Wirklichkeit entsprechen. Im besten Fall ist die Berechnung also höchst irreführend, im schlechtesten Fall ist sie einfach falsch. Jedenfalls gibt es starke Anzeichen dafür, dass das angewendete Modell zu simpel ist um die komplexe R-Zahl sinnvoll abzuschätzen.
Was nun?
Die aktuelle Methode der AGES zur Berechnung der effektiven Reproduktionszahl scheint also verbesserungswürdig. Hier könnte man sich an den tiefgreifenderen Berechnungsmethoden anderer Länder orientieren. Egal aus welcher Modellrechnung stammend, die Reproduktionszahl taugt jedenfalls nicht als alleinige Kennzahl zur Entwicklung der Epidemie und sollte stets nur gemeinsam mit vielschichtigen Analysen zur Entscheidungsfindung herangezogen werden.
*Anmerkung am Rande: Sowohl auf der Website des ORF als auch in der Veröffentlichung der AGES ist durchwegs von “Konfidenz”-Intervallen die Rede. Da der Analyse aber Bayesianische Statistik zu Grunde liegt, sollten diese korrekter Weise als “credible intervals” bezeichnet werden. Die Diskussion über diese Formsache wird hier allerdings ausgespart.
Isabella Deutsch, MSc BSc, hat an der Universität Wien und der University of Oxford Statistik studiert und forscht aktuell im Rahmen ihres PhDs an der University of Edinburgh zu Bayesianischer Statistik mit Fokus auf Poisson-Prozesse.